Rundbrief Nr. 212 – Im Mai 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seinem Buch „Die unfassbare Vielfalt des Seins“ (2023) sinnt der Zukunftsforscher J. Bridle über Formen der Intelligenz nach, die jenseits der menschlichen Grenzen angesiedelt sind. Dabei lässt er die Wissenschaftsgeschichte dort beginnen, wo das Orakel der Apollon-Prophetin Pythia die antike Welt deutete und dadurch überhaupt erst geistig schuf. Wenn man das Denkbild „Die zweierlei Wagenlenker“ (1935) von Stefan Andres neben die Ausführungen des Futurologen Bridle hält, könnte man annehmen, dieser habe das Delphi-Konzept von Andres als Muster in sein eigenes Werk implantiert. 

   Verblüffend nah kommen sich die Vorstellungen der beiden Autoren vom „Nabel der Welt“, zu dem die Griechen um der Verehrung und Erkenntnis willen pilgerten. 

   Die fromme Wallfahrt zum Gott Apoll kontrastiert Andres mit einer Postautofahrt, die Delphi zu einem „Abstecher“ der touristischen Reiseroute schrumpfen lässt. Es ist daher nicht überraschend, dass sein moderner „Postautochauffeur“ nur wenig gemein hat mit der Figur des gottgefälligen Wagenlenkers im Museum von Delphi, denn der griechische  Autolenker von heute kennt nicht den Mythos vom heiligen Bezirk, in dem seine Vorfahren einst so fromm wurden, „dass sie sich selber nicht wiedererkannten“. 

   An diesen Mythos schließt der Futurologe Bridle bei seiner Forderung nach Berücksichtigung auch nicht-menschlicher Intelligenzen an. Er möchte ein tieferes Wissen und längeres Gedächtnis, als es nur anthropozentrisch geartete Instrumente bereitstellen, fruchtbar machen. – Sein symbiotisches Utopia wäre dann eine positive Antwort auf die Frage bei Andres „ob der schaffende Mensch, der seiner Welt Götter aufrichten will“ vielleicht doch kein Tor ist.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

PS: Die Reise vom Parnass zur Zummethöhe ermöglicht der verein-literaturlandschaften@t-online.de 

Anhang Delphi