Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser!
Passend zur hundertsten Wiederkehr des Todesjahres von Franz Kafka beinhaltete das Abitur-Thema am Stefan-Andres-Gymnasium Schweich die Bearbeitung eines Prosatextes des berühmten Prager Schriftstellers. Diesem günstigen Umstand will der folgende Kommentar zur Verleihung des StA-Abitur-Preises Rechnung tragen, indem er das literarische Verhältnis von Stefan Andres zu Franz Kafka skizziert:
Zum sechsten Mal konnte 2024 der StA-Preis für die beste Abiturarbeit im Fach Deutsch am Stefan-Andres-Gymnasium vergeben werden. Die diesjährige Preisträgerin ist Anastasia Pauly. Sie hat die von dem betreuenden Fachlehrer Jan Weis gestellte Aufgabe zu Franz Kafkas Prosatext „Der Fürsprecher“ (1936) in überzeugender Weise erfüllt.
Kafkas Denkbild erweist sich als typisch für die juristisch-prozessual gestaltete Weltsicht des Prager Autors, indem es „Anklage, Fürspruch und Urteil“ dem allgegenwärtigen inhaltsleeren „Dröhnen“ des kollektiven Gesetzes im „Gerichtsgebäude“ zuweist, die Suche nach einer Verteidigung des eigenen Lebenskonzepts durch eine Intervention von außen, die nur – wie die „alten Frauen“ – „Mauer“ sein kann, aber schließlich aufgibt zugunsten eines notwendigen individuellen Weges.
Mit der Abwesenheit der verteidigenden „Fürsprecher“ entfällt auch die Bedrängung durch die Schuld suggerierenden tierhaften Ankläger. Indem der Protagonist seine klagend-anklagende Haltung aufgibt, verpflichtet er sich zu einem selbstverantwortlichen Handeln. Dementsprechend macht er sein Leben zur „Treppe“, deren Stufen „unter den steigenden Füßen“ unaufhörlich wachsen und so buchstäblich dafür sorgen, dass der Steigende in einem endlos weltschaffenden Schritt den Boden nicht unter den Füßen verliert.
Ein Zurück oder Hinab kommt nicht mehr infrage, da die unsichere Wahrnehmungskategorie Raum durch diejenige der drängenden Zeit ersetzt wird. Diese bewirkt eine einsinnige Ausrichtung – trassiert als Ausweg ohne erkennbares Ziel.
Anders als die ebenfalls zum selbständigen Handeln auffordernde Kafka-Parabel „Ein Kommentar“ endet der Prosatext „Der Fürsprecher“ also nicht in einem handlungsdemontierenden „Gibs auf, gibs auf“, sondern in der psychologisch motivierten Richtungsvorgabe „aufwärts“.
Es ist denkbar, dass der mit Franz Kafka vertraute Stefan Andres – in seinen Roman „Die Dumme“ integriert er sogar eine Kafka-Parabel – von der Erzählung des berühmten Prager Schriftstellers angeregt wurde, denn die Andres-Anekdote „Der siebente Paragraph“, ein Jahr nach dem Kafka-Denkbild veröffentlicht, handelt ebenfalls von einem „Fürsprecher“.
Der Verdacht der Anregung durch Franz Kafka wird durch die Tatsache verstärkt, dass Stefan Andres seine Gerichtsanekdote in der Hauptsache „im alten Rathaus“ von Prag spielen lässt – realiter kaum hundert Schritt entfernt vom Geburtshaus des „Franze Kafky“.
Stefan Andres: „Der siebente Paragraph. Anekdote“. In: Erzählungen – Anekdoten – Denkbilder. Schriftenreihe der StA-Gesellschaft, Heft Nr. 8. Schweich 2022.