Rundbrief Nr. 224 – Im April 2025

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seiner Studie Moses der Ägypter (1998) weist Jan Assmann den altägyptischen Prozessionsfesten einen für Mensch und Staat gleicherweise unersetzlichen Erlebnis- und Sozialwert zu. Nach Ansicht des Ägyptologen gewährte das feierliche Umzugsritual einen existenziellen Sinnrahmen, weil es die Zugehörigkeit des Menschen zu seiner jeweiligen Stadtgottheit, die nur bei dieser Gelegenheit aus ihrem dunklen Tempel heraustrat, für das Volk erlebbar machte.   

Eine ähnliche Bedeutung schreibt auch Stefan Andres dem „seltsam irdischen Glauben der alten Ägypter“ zu. Wie er in seinem Reisebericht Ägyptisches Tagebuch (1967) vermerkt, sind die Götterprozessionen der Grabgemälde mythischer Ausdruck der Göttergegenwart.

Der Schriftsteller zeigt sich angezogen von dem dort propagierten freundlichen Umgang der Gottheiten miteinander und der damit einhergehenden Vorstellung einer mystischen Vermählung „irdischer und jenseitiger Welt“. Es ist die durch „zwei sich gegenseitig spiegelnde Wirklichkeiten“ bewirkte All-Einheit, der er auch in seiner positanesischen Impression Das Fest der Fischer (1938) Ausdruck verliehen hat.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Erlebtes Jenseits

Rundbrief Nr. 219 – Im November 2024 (2)

Einladung

Die Stefan-Andres-Gesellschaft lädt ein zum diesjährigen Geselligen Abend

„Literatur und Weinkultur“

für Samstag, den 30. November, 18.00 Uhr, Seminarraum des Niederprümer Hofs in Schweich.

„Amors plötzliche Pfeile“

lautet das Thema, das Stefan Andres immer wieder in ernsten und heiteren Varianten bearbeitet.

Dass die Begegnung des jungen Menschen mit Eros-Amor in seinem Werk einen wichtigen Stellenplatz einnimmt, ist bedeutsam bei einem Autor, der, wie einige seiner Protagonisten, für ein geistliches Amt bestimmt ist. Und so verwundert es nicht, dass diese Bestimmung jeweils miterwähnt wird, wenn der geflügelte Knabe mit Pfeil und Bogen die Regentschaft antreten möchte und dadurch einen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung hervorruft.

Die autobiographisch gearteten inneren und äußeren Auseinandersetzungen erfahren ihre Poetisierung durch ein gerüttelt Maß an Selbstironie.

Drei Episoden dieser Art sollen in szenischen Lesungen der Rezitatoren (E. Cannivé-Boesten, J. Hansjosten, C. Schött, R. Hansjosten, B. Hansjosten) zu Gehör gebracht werden. Es handelt sich um Auszüge aus Der Knabe im Brunnen (1953)Der rote Schirm (1968) und Bruder Luzifer (1933).

Horst Lachmund (Trier) und Emil Angel (Mondercange, Lux.) werden sich in selbstverfassten Beiträgen dem Thema annähern.

Die Lesungen sind eingebettet in eine Weinprobe des Schweicher Winzers Jürgen Schmitz vom Weingut Schweicher Hof. – Für die musikalische Untermalung wird Uschi Boes sorgen.

Der Eintritt ist frei.

Bitte um Anmeldung bei: andrekastner60@gmail.com – Tel.: 06502/937648 oder hansjosten-schweich@gmx.de – Tel.: 015902178529.                         

Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Rundbrief Nr. 218 – Im November 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Humanistisches Bildungsinteresse begleitet Stefan Andres auf seiner Griechenlandreise im Jahr 1934. Daher richten sich seine Gedanken in Athen vornehmlich auf die Akropolis mit ihren klassischen Bauten und archaischen Heiligtümern.

Aber es ist im Schatten dieser antiken Tempelburg und unter den Platanen des beschaulichen Wohnviertels„Plaka“, wo der junge Schriftsteller beim griechischen Wein in das gesellige Leben Athens eintaucht. Dort lädt das damals von Andres besuchte Weinlokal „Platanos“ noch heute zum abendlichen Plausch am Odos Mnesikleos ein (Foto im Anhang).

In seinem Reisetagebuch „Sprache des Temenos“ (1935) schildert Andres, wie sich sein Erlebnis- und Erfahrungshorizont in den Gesprächen mit seinem Freund Sokrates erweiterte.

Vom Verlauf dieser „sokratischen“ Dialoge erfahren wir glücklicherweise durch einen Brief des Freundes vom 6. November 1934. Das heute neunzigjährige Unikat ist, was Stil und Partnertaktik anbelangt, ein aufschlussreiches Unikum.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang

Rundbrief Nr. 217 – Im Oktober 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Die Novellette „Der Abbruch uns Dunkle“ (1932) schildert das Schicksal einer Frau, die von einer dörflichen Gemeinschaft in die Isolation und in den Ruin getrieben wird. Der mit dem Flurnamen Maroul getarnte Ort steht stellvertretend für gesellschaftliche Einheiten, in denen die lokalegoistische Exklusion und ein zur Raffgier verkommenes Besitzstreben zum Normalverhalten und zum Alltagssport geworden sind.

   Die Eingangspassage liefert neben dem Erzählanlass schon die Einsicht, dass Gnaden- und Gedankenlosigkeit ein unheilvolles Gespann zu bilden vermögen. Selbst in der kindlich-spöttischen Beschwörung spiegelt sich noch die Rücksichtslosigkeit der Machenschaften, mit denen einst ein wehrloses Opfer zugrunde gerichtet wurde. Und das Generationen übergreifende Echo auf die feige Spottformel von „fun and fear“ bestätigt, dass ein tumbes Kollektiv einen Reiz darin findet, die Ächtung eines Mitmenschen zu einer ungesunden, aber unterhaltsamen Tradition zu erheben.

   Stefan Andres folgt mit seiner Erzählabsicht der Erkenntnis, dass der Blick in den Rückspiegel oft die beste Diagnose liefert.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Diagnose im Rückspiegel

Rundbrief Nr. 216 – Im September 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!   

Stefan Andres‘ Erzählung „Das goldene Gitter“ (1940), angeregt durch den Capri-Aufenthalt des jungen Schriftstellers im Jahr 1932, vermittelt in ihrer humorigen Gestaltung die Vorstellung von volkstümlicher Frömmigkeit und einem sinnenfrohen, erdzugewandten Christentum, wie es Andres schon mit dem „heiligen Pfäfflein Don Domenico“ präsentiert hat.

In der Gestalt des nach seiner geistlichen Eigenschaft einfach Zio Prete (Onkel Priester) genannten Protagonisten begegnet man, wie Dieter Richter, der Herausgeber des Andres-Bandes „Terrassen im Licht“ (2009), in seinem Kommentar vermerkt, einer Figur mit „derb-irdischen Zügen“.

Der ausgewählte Passus stellt den Priester als gewieften Makler dar, der kirchlichen Segen in bare Münze umzuwandeln versteht und der auch nicht davor zurückschreckt, einen wundertätigen Heiligen für seinen Handel einzuspannen. In dieser Absicht organisiert der Schelm eine Pilgerreise nach Sant‘ Agnello bei Sorrent.

Die Erzählung erinnert in ihrem heiter-erbaulichen Stil an die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel. Zio Prete scheint in Denk- und Handlungsweise sogar deutlich dem schlitzohrigen Protagonisten in dessen Erzählung „Der schlaue Pilgrim“ nachempfunden zu sein.  

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 216

Rundbrief Nr. 215 – Im August 2024

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seiner einfühlsamen Satire „Verteidigung der Xanthippe“ (1942) entwirft Stefan Andres das Porträt der Frau des Sokrates in neuen Farben. Die zum Inbegriff des „zänkischen Weibes“ herabgewürdigte Xanthippe erhält bei ihm die Stimme der sorgenvollen Ehefrau.

Wie Bertolt Brecht in seiner Erzählung „Der verwundete Sokrates“ (1939) macht es sich auch Stefan Andres zur Aufgabe, die redensartlich gemeinhin als zänkisch geschmähte Xanthippe zu rehabilitieren und die literarisch bezeugte Frauengestalt in ihrem Selbstverständnis und ihrer ehelichen Beziehung zum allseits gerühmten Philosophen zu würdigen.

Die Frau des Sokrates, die Platon im „Phaidon“ ohne erkennbare Herabsetzung erwähnt, war  zur Verkörperung des zänkischen Weibes geworden infolge einer denunziatorischen Frage, die Xenophon in seinem „Gastmahl“ dem Sokrates-Schüler Antisthenes in den Mund legt:

„Warum nur, Sokrates“, fragte ihn Antisthenes, „erziehst dann nicht auch du in dieser Erkenntnis Xanthippe, sondern hast in ihr die unverträglichste  Frau von allen, die es gibt – ja, ich glaube, sogar von allen, die es gegeben hat und geben wird?“

Stefan Andres nimmt zum Zweck der Rehabilitierung ausdrücklich Bezug auf diesen Urheber der Xanthippe-Verunglimpfung und setzt gegen dessen schiefes Porträt das Bild einer Frau, die durch ihre Identität und ihr Rollenverständnis unsere Achtung verdient.

Im gerechten Ausgleich zu Platons „Apologie des Sokrates“ erhalten wir damit die lang fällige „Apologie der Xanthippe“.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang