Rundbrief Nr. 145 – Im Juli 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Die Korrespondenz zwischen Stefan Andres und dem Hamburger Schriftstellerkollegen Erich Nossack enthält eine kuriose „Kaffee-Geschichte“. Zwischen Juli und September 1951, also drei Jahre nach Inkrafttreten des Marshallplans und der Währungsreform, entspinnt sich in vier Briefen eine Geschichte, die auf einen damals noch vorhandenen Mangel verweist, der sehr wohl mit Literatur bzw. dem Schreiben zu tun hat. Es geht um Kaffee, und zwar, wie Stefan Andres formuliert, um eine „Dosis“.

Man ist an die Dosis des Wiener Kaffeehausliteraten Alfred Polgar erinnert, der sein tägliches „Quantum Centralin“ im Café Central benötigte zur Förderung des Schaffensprozesses bzw. – wie Gottfried Benn in „Provoziertes Leben“ diagnostiziert – zur „Steigerung der formal-ästhetischen Funktionen“.

Die „Kaffee-Geschichte“ beginnt mit dem Brief vom 21. Juli 1951, in dem Andres schreibt:

Kurz und offen, hoffentlich sind Sie nicht schockiert über meine Kühnheit: Könnten Sie mir gelegentlich meine Dosis Kaffee, die ich wie Arbeit brauche, zum […?] Großhandelspreis zukommen lassen. Bei diesen mörderischen Kaffeepreisen wäre mir das eine wirkliche Hilfe.

Prompt antwortet Nossack (30. Juli):

Ich will auch sehen, ob meine Frau und ich in Wiesbaden „schwarzen“ Kaffee kaufen können. Das pflegen wir immer zu tun, wenn wir in Süddeutschland, d.h. in der amerik. Zone sind.

Und wieder (13.August), nachdem man sich in Unkel persönlich begegnet ist:

Lieber Stefan Andres, wir haben ganz vergessen, über das Thema „Kaffee“ zu sprechen. Das lag wohl an meiner Übermüdung, verzeihen Sie bitte. Wir haben diesmal keinen „schwarzen“ Kaffee in Süddeutschland gekauft, da die Gangster dem Zuge der Zeit gefolgt waren und den Preis erhöht hatten. Sie forderten für die Dose Lyon’s (450 Gramm) ca. DM 10,50, während wir im Frühjahr 8,- dafür bezahlten. Zu DM 10,50 lohnt sich das Zeug nicht, so berückend ist die Qualität nicht. Was uns angeht: Die väterliche Firma sitzt hier im Freihafen und importiert nur Rohkaffee im Großen. Einzelversand darf sie nicht machen, es gibt da solche Vereinbarungen. Das Pfund Rohkaffee billigster Qualität kostet ca. DM 4,-, die Sorten, die wir lieber trinken, ca. 5,-. Dazu kommt DM 6,- Steuer und Zoll, macht rund DM 11,- für das verzollte Pfund Rohkaffee. Der Röstverlust ist ca. 20%, sodass …

Es folgt eine halbe Seite detailliertester Kostenberechnung mit negativem Ergebnis, sodass Andres in seinem Brief vom 3. September seine Bitte zurücknimmt:

Lieber Hans Erich Nossack, haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren langen Brief, in dem mir die große Höflichkeit wohltat, mit der Sie mir die Kaffeegeschichte auseinandersetzten. Ich sehe ein, dass Sie Recht haben. Ich werde mir also wahrscheinlich den Kaffee aus dem Ausland kommen lassen. Leider war Ihr Aufenthalt sehr kurz, das nächste Mal bleiben Sie ein wenig länger.

Die Zitate sind entnommen dem Editionsband „Briefe von und an Stefan Andres 1930-1970. Auswahl“. Herausgegeben und kommentiert von Günther Nicolin und Georg Guntermann. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. (Mitglieder können den Band bei der StAG erwerben zum Preis von 25 €.)

Für die Stefan-Andres Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil

Rundbrief Nr. 143 – Im Mai 2019

Sehr geehrte Damen und Herren. liebe Leserinnen und Leser!

In seiner heiter-ernsten Legende „Vom heiligen Pfäfflein Domenico“ (1936) verwendet Stefan Andres den Topos vom schlichten Christen, der sein echtes Christentum lebt, als Instrument der Kritik. Er verfährt damit wie Walther von der Vogelweide, der im „Reichston“ (um 1200) einen einfachen Klausner über die politischen Widrigkeiten seiner Zeit klagen lässt: „… hilf herre, diner kristenheit!“ Walther wiederholt diese Klagegeste im „Unmutston“ („… min guoter klosenaere klage“) und „Kaiser Friedrichs-Ton“. – Auch Andres stattet weitere rangniedrige Repräsentanten des Christentums mit den Eigenschaften echter Menschlichkeit aus: Don Eufemio („Das goldene Gitter“, 1943) und Don Evaristo („Das Tier aus der Tiefe“, 1949). – Und so schildert Stefan Andres Don Domenicos Berufung zum Festprediger:

Am Himmelfahrtstag des Herrn, als die Glocken im Dom von Poseidonia zum Hochamt läuteten, lief der Küster, vom hageren Don Beppo geschickt, in die Schenke des Peppino hinauf, wo er Don Domenico mit Bestimmtheit anzutreffen wusste. Der lag denn auch dort in der Schenke auf einer Bank und schnarchte, ermüdet von seiner bereits zelebrierten Frühmesse und vom Wein ein wenig benommen. Und als ihn der Küster mit heftigem Rütteln aufweckte und ihm zurief: „He, Don Domenico, kommt sofort zum Dom herunter, der Don Beppo hat seine Predigt vergessen!“, da erhob sich Don Domenico alsbald und ging mit dem Küster fort, über welche Bereitwilligkeit die Anwesenden in großes Lob ausbrachen und sagten: „Ja, der Don Domenico ist wahrhaftig das Muster eines Priesters, ob’s der Prälat Don Beppo glauben will oder nicht!“ Es war nämlich männiglich bekannt, dass Don Domenico in dem Maße, als ihn die einfachen Leute von Poseidonia liebten, bei seinen Oberen missliebig war, eben weil sie eifersüchtig waren auf die Liebe und Verehrung, die er genoss.

Die Schilderung vom Traum der eigenen Himmelfahrt und der Ankunft in einem himmlischen Poseidonia gibt dem Prediger die Möglichkeit, einige Dinge im realen Poseidonia zurechtzurücken, und zwar ganz  der christlichen Maxime folgend, dass das Niedrige erhöht werde …

Der Herr aber ließ einige himmlische Karabinieri kommen, die eine Musterung unter den Fremden auf der Piazza hielten. Und alle, die ein wenig nach Wein dufteten, Fischerhosen und Sandalen trugen oder doch nicht mehr als zwei mittlere Koffer mitgebracht hatte, durften bleiben, die anderen mussten ihr Gepäck holen und wurden in ein Boot gesetzt, das sie wieder zur Erde hinüberschiffte. Nach dieser Unterbrechung, die aber über die Maßen kurzweilig war, bewegte sich die Prozession die Domstufen hinauf. Da saß unsere gute, alte Theresa und trank durch ihre Hasenscharte die Sonne ein, hatte die Augen halb geschlossen und träumte vom Paradies. Vom fröhlichen Getümmel und Gejauchze geweckt, erblickte sie plötzlich unseren schönen Herrn, verdeckte mit der Hand ihre Hasenscharte und wollte entweichen, wurde aber von den Aposteln am Rockzipfel gehascht und vor den Herrn gebracht. „Ei, Theresa“, sprach er, „fortlaufen willst du vor mir und hast dein Leben lang nach mir gerufen?“ und er machte sie zu seiner Türhüterin; am Eingang seines Palazzo durfte sie wegen ihrer Treue als das Hündlein des Herrn in der Sonne liegen und achtgeben, wer da komme und gehe.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil

Rundbrief Nr. 142 – Im April 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

In ihren Erinnerungen „‘Carpe Diem!‘ Mein Leben mit Stefan Andres“ (Bonn 2009) schildert Dorothee Andres einen bemerkenswerten kaiserlichen Schenkungsakt.

Dort findet sich unter dem Jahr „1956“ der folgende Eintrag:

Eines Morgens erreichte uns ein Telegramm von Kaiser Haile Selassie, den Stefan Andres auf dem Empfang in Brühl gegen jede Etikette angesprochen hatte, woraus sich damals eine kurze Unterhaltung ergab. Es lautete: „Stefan Andres Unkel = Im allerhöchsten Auftrag seiner Majestät des Kaisers von Äthiopien und Löwen von Juda habe ich die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass eine Insel im Hoheitsgebiet unseres Landes Ihnen zu Ehren den Namen Utopia erhalten hat = BEN DISA BEBA Botschafter+“

Bald folgte ein zweites Telegramm: „Ernenne Sie zum Ehrenbürgermeister von Utopia und freue mich auf einen Wochenendbesuch Ihrer Familie = IHR HAILE“. Mittags kam dann ein letztes: „Utopia leider am 1. April in den Fluten versunken. Bitte weiter dichten = DIE UTOPIER+“ Wir wussten natürlich, unser Freund Albert hatte uns auch in diesem Jahr zum ersten April nicht vergessen.

Anlass war ein Ereignis aus dem Jahr „1954“:

Der abessinische Kaiser Haile Selassie war auf Staatsbesuch in Bonn eingetroffen. Es gab einen Empfang auf Schloss Brühl. Gut, dass wir unser Hausmädchen die Fahrprüfung machen ließen, mein bodenlanges Kleid mit über 7 Meter Saumumfang, was vorgeschrieben war, war nicht zum Steuern geeignet. Ingrid war der einzige weibliche Chauffeur dort. Zur Vorstellung bei der kaiserlichen Hoheit standen die Geladenen paarweise im großen Saal, ein Herold meldete laut die Namen, und man durfte das zarte braune Händchen ergreifen. Diese wortlose Begrüßung fand Andres stur und sagte strahlend „Guten Abend, Majestät“. Darauf auf Englisch die freundliche Frage: „Name? Beruf?“ – und ein bewunderndes „Ah, a writer, good luck!“. Hinterher rügte das Protokoll des Auswärtigen Amtes Andres heftig. Man habe nicht zuerst das Wort zu ergreifen, sondern müsse warten, bis man angesprochen werde.

Im Namen der Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil

Rundbrief Nr. 141 – Im März 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Die Stefan-Andres-Gesellschaft lädt ein zur Vorstellung des neuen Buches von Emil Angel (Esch-sur-Alzette/Luxemburg) mit dem Titel:

„Unsere Insel im Watt. Eine Hommage an Texel“.

Der durch seine heiteren Glossen und lebendigen Erzählungen auch diesseits der Grenze bestens bekannte Autor wird Kostproben aus seinem Texel-Buch vortragen. In der Form von Schilderung, Erzählung, Reportage und Anekdote wird darin eine Insel- und Wattlandschaft verwandelt in einen Raum intensiven Erlebens und Erinnerns.

Mit musikalischer und fotografischer Unterstützung werden Eindrücke vermittelt werden von einer Robbenfahrt, einer Tragödie im Sechs-Stunden-Land des Watts und einem Massaker am Ende des Zweiten Weltkriegs. Anekdotische Impressionen liefern überraschende Deutungen von Begriffen wie Weltbild, Brainstorming oder Pessimismus.

Der literarische Nachmittag findet statt am Samstag, dem 30. März, um 15.00 Uhr, im Niederprümer Hof in Schweich.

Der Eintritt ist frei.

Anmeldungen bitte bei: brumathfrz@aol.de – Tel.: 06502/937648 oder

wokeil40@t-online.de – Tel.: 0651/67177

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil

Rundbrief Nr. 140 – Im Februar 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Wie für Frankreich so hegten Stefan Andres und seine Frau Dorothee auch für ein anderes westliches Nachbarland große Sympathien: für das gelobte „Ländchen“ Luxemburg,

Das bezeugen die Exzerpte im Anhang. Es handelt sich um Eintragungen von Dorothee Andres in „‘Carpe Diem!‘ Mein Leben mit Stefan Andres“ und um Bemerkungen in einem Brief des Schriftstellers in „Briefe von und an Stefan Andres 1930 – 1970“. Die Hochschätzung des „Ländchens“ gründet sich, wie man mehrfach lesen kann, auf Freundschaft und auf Frieden und – nicht nur in der kärglichen Nachkriegszeit – auf Forellen.

Es würde das Ehepaar Andres sicher freuen zu hören, dass die Stefan-Andres-Gesellschaft heute eine ganze Reihe prominenter Luxemburger Mitglieder zählt. Dass von dort z. B. der Wissenschaftliche Beirat der StAG von Dr. Claude Conter unterstützt wird und der Autor Emil Angel regelmäßig mit Kostproben aus seinen Werken zu Leseveranstaltungen beiträgt, würde das Ehepaar als die fruchtbare Fortsetzung ihrer eigenen guten Beziehungen zu den nachbarlichen Freunden begrüßen.

Stefan und Dorothee Andres wussten schon damals, was grenzüberwindende Nachbarschaftspflege wert ist. Vom Prinzip „Schengen“ her behaupten die zitierten Passagen eben jetzt wieder ihre Aktualität!

Im Namen der Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil

PS: Am 30. März liest Emil Angel (Esch-sur-Alzette/Lux.) aus seinem neuen Werk. Einladung folgt.

Rundbrief Nr. 139 – Im Januar 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Die Kurzgeschichte „Die Zigarren“ von Stefan Andres, erschienen 1935 in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, 2016 wiederentdeckt von M. Mossmann und zuletzt aufgenommen in die „Mitteilungen der StAG 2017“, hat André Kastner, der Kustos der StAG, in seine Muttersprache, sein geliebtes Französisch, übersetzt. In dieser Form (Ausschnitt im Anhang) konnte er den Text im Oktober 2018 bei einem Treffen der Partnerstädte Schweich und Marsannay-la-Côte vortragen – passend zum gemeinsamen Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs.

Die kleine Erzählung vom Bauernjungen, der einem Soldaten die von ihm zunächst nicht besorgten Zigarren an die Front nachbringen möchte, ist eine Kurzgeschichte par excellence, denn es lässt sich kein Wort streichen, ohne dass die Textform beschädigt wird, und sie schließt trotz der Kürze in gleich dreifacher Weise an die Weltliteratur an: Das Verweigern einer kleinen Gefälligkeit entspricht in seiner Gefühlsechtheit und -wirkung dem Versagen Parzivals bei der Mitleidsfrage; der daraus folgende Gewissensdruck führt zu einer Unbedingtheit und Maßlosigkeit, die wie bei Antigone nur im Tod enden kann; das Sterben schließlich erweist sich als die imaginäre Erfüllung einer Lebensaufgabe, wie sie Faust im „Augenblicke“ am Rande des Grabes erfährt.

Zum Weltkriegsgedenken einer deutschfranzösischen Jumelage im Jahr 2018 aber eignet sich das kleine Meisterwerk, weil es darin trotz kriegerischem Vorder-, Hinter- und vor allem Mittelgrund völlig unmartialisch zugeht. Denn das Movens der heroischen Handlung des „Kriegsfreiwilligen“ liegt in der Schlusszeile der zitierten Passage: „Was wird das erst in Frankreich geben?“ Es ist die Klage des enttäuschten Soldaten über eine zu erwartende Verschlimmerung („erst“) der Unannehmlichkeiten, die die Kriegswirklichkeit verdrängt bzw. unwichtig erscheinen lässt – von Feindschaft und Hass jedenfalls zeigt sich im Bewusstsein des Protagonisten und des Erzählers keine Spur.

Die Kurzgeschichte „Die Zigarren“ fügt sich damit ein in eine Reihe von Andres-Texten mit versöhnungspolitischen Zügen, die mit dem Roman „Die unsichtbare Mauer“ beginnt, mit „Gäste im Paradies“ und „Der Knabe im Brunnen“ fortgeführt wird und in dem Roman „Die Hochzeit der Feinde“ ihren Höhepunkt erfährt.

Im Namen der StAG und im Geiste dieses Denkens wünsche ich Ihnen ein gutes Jahr 2019!

Ihr Wolfgang Keil