Rundbrief Nr. 139 – Im Januar 2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Die Kurzgeschichte „Die Zigarren“ von Stefan Andres, erschienen 1935 in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, 2016 wiederentdeckt von M. Mossmann und zuletzt aufgenommen in die „Mitteilungen der StAG 2017“, hat André Kastner, der Kustos der StAG, in seine Muttersprache, sein geliebtes Französisch, übersetzt. In dieser Form (Ausschnitt im Anhang) konnte er den Text im Oktober 2018 bei einem Treffen der Partnerstädte Schweich und Marsannay-la-Côte vortragen – passend zum gemeinsamen Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs.

Die kleine Erzählung vom Bauernjungen, der einem Soldaten die von ihm zunächst nicht besorgten Zigarren an die Front nachbringen möchte, ist eine Kurzgeschichte par excellence, denn es lässt sich kein Wort streichen, ohne dass die Textform beschädigt wird, und sie schließt trotz der Kürze in gleich dreifacher Weise an die Weltliteratur an: Das Verweigern einer kleinen Gefälligkeit entspricht in seiner Gefühlsechtheit und -wirkung dem Versagen Parzivals bei der Mitleidsfrage; der daraus folgende Gewissensdruck führt zu einer Unbedingtheit und Maßlosigkeit, die wie bei Antigone nur im Tod enden kann; das Sterben schließlich erweist sich als die imaginäre Erfüllung einer Lebensaufgabe, wie sie Faust im „Augenblicke“ am Rande des Grabes erfährt.

Zum Weltkriegsgedenken einer deutschfranzösischen Jumelage im Jahr 2018 aber eignet sich das kleine Meisterwerk, weil es darin trotz kriegerischem Vorder-, Hinter- und vor allem Mittelgrund völlig unmartialisch zugeht. Denn das Movens der heroischen Handlung des „Kriegsfreiwilligen“ liegt in der Schlusszeile der zitierten Passage: „Was wird das erst in Frankreich geben?“ Es ist die Klage des enttäuschten Soldaten über eine zu erwartende Verschlimmerung („erst“) der Unannehmlichkeiten, die die Kriegswirklichkeit verdrängt bzw. unwichtig erscheinen lässt – von Feindschaft und Hass jedenfalls zeigt sich im Bewusstsein des Protagonisten und des Erzählers keine Spur.

Die Kurzgeschichte „Die Zigarren“ fügt sich damit ein in eine Reihe von Andres-Texten mit versöhnungspolitischen Zügen, die mit dem Roman „Die unsichtbare Mauer“ beginnt, mit „Gäste im Paradies“ und „Der Knabe im Brunnen“ fortgeführt wird und in dem Roman „Die Hochzeit der Feinde“ ihren Höhepunkt erfährt.

Im Namen der StAG und im Geiste dieses Denkens wünsche ich Ihnen ein gutes Jahr 2019!

Ihr Wolfgang Keil