Rundbrief Nr. 172 – Im Juni 2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Wenige Tage vor dem Geburtstag von Stefan Andres könnte auch die Protagonistin seines Romans „Die Hochzeit der Feinde“ (1947) ihr Wiegenfest feiern.

Es geschieht wohl selten, dass in einem nicht-dokumentarischen Roman ein durch Jahreszahl historisch verankertes Kalenderdatum genannt wird: Die Protagonistin Luise wird „am 14. Juni 1924“ achtzehn Jahre alt. Sie ist also wie Stefan Andres im Jahr 1906 zur – allerdings fiktionalen – Welt gekommen, und zwar nur wenige Tage vor dem am 26. Juni geborenen Verfasser des Romans. (Anhang)

Über die Bedeutung dieser zeitlichen Annäherung der Biographien von Romanverfasser und Romanfigur darf man spekulieren. Sicherlich geht es bei der Altersdatierung nicht vorrangig um die Frage der Volljährigkeit im Sinne des BGB-Paragraphen oder um die dort eigens angeführte „Ehemündigkeit“ – es liegt jedoch nahe, dass der Autor, der sich auch sonst weitgehend mit seiner Romanfigur identifiziert, ein Signal senden möchte, das aufmerksam macht auf die Überwindung der Jugendkrise in der Adoleszenz, auf den Lebensabschnitt also, den er selbst als ein Ringen um die Richtung seines Lebens erfahren hat. 

In diesem Stadium der Orientierung trifft die Romanfigur Luise eine Entscheidung, die als Ausdruck eines gefestigten Selbstwertgefühls ihren Lebensplan bestimmen wird. Ihre Entscheidung basiert auf einem Grad von Autonomie, den auch der Autor als die conditio sine qua non seiner eigenen Existenz erachtete. 

Wie bedeutsam diese Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung für Stefan Andres war, wird auch ablesbar an dem Umstand, dass er zu Luises Streben nach Eigenständigkeit und Selbstverantwortung eine auffällige Parallele schafft in dem Verhalten der jugendlichen Protagonistin seines Romans „Die Liebesschaukel“ von 1951. (Anhang)

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil 

Anhang Rundbrief Nr. 172