Rundbrief Nr. 192 – Im Dezember 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!                                    

In seiner Sintflut-Trilogie (1949 – 1959) lässt Stefan Andres den schriftstellernden Goldschmied Clemens eine mythisch anmutende Sintflut-Erzählung verfassen. Die Episoden fügen sich kapitelweise wie Intarsien in den Haupttext ein, verbinden sich aber enger als solche Einlegearbeiten mit der Grundfläche, so dass beim Lesen wechselseitige Beziehungen zwischen den Figuren und Handlungen der verschiedenen Romanebenen entstehen. 

Geradezu mit Spannung erwartet man daher die Reaktion des Romanprotagonisten auf den Vortrag einer Greuel-Episode aus den Noah-Legenden, in der dem Exponenten brutaler Gewaltherrschaft ebenso mutig wie schonungslos der Spiegel vorgehalten wird.

Da die Legenden-Reihe sowohl innere Geschlossenheit als auch inhaltliches Gewicht aufweist, konnte sie als eigenständiges Separatum veröffentlicht werden. Sie ist unter dem Titel „Noah und seine Kinder“ erstmals 1968 in Buchform erschienen.

Seit Beginn des Jahres 2022 liegt nun der Legenden-Zyklus in einer kritischen Ausgabe des StAG-Mitgliedes Dr. Armin Erlinghagen vor. Sie ist für Mitglieder zum Vorzugspreis von 27 € bei der StAG erhältlich (Ladenpreis 45 €).

In der für den Anhang gewählten Passage aus der auf babylonischen Flutsagen beruhenden biblischen Erzählung über Strafe und Vergebung Gottes nimmt Stefan Andres die spätere messianische Erwartung, die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung, vorweg. Der Weg aus der Finsternis der Flut gipfelt mit seiner Lichtmetaphorik in einer Epiphanie: Das Bild der Sonne wird zum „Spiegel des Freundlichen“.

Noahs Verhalten in dieser Feier des Lichtes erinnert an die Einsicht des von Schuld genesenen Faust im Zweiten Teil der Tragödie von J. W. Goethe. Allerdings indiziert das Schlüsselwort „Abglanz“, das die Texte verbindet, einen je unterschiedlichen Grad von Transzendenz, wie die Gegenüberstellung zeigt:

     „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ (Faust)

     „… noch der Abglanz seines Angesichts blendet. Doch lasst euch von ihm

     ansehen jede Stunde, und ihr werdet das Leben haben.“ (Noah)

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit adventlichen Grüßen                   

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang