Rundbrief Nr. 187 – Im Juli 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seiner Erzählung „Die alte Babe“ (1935) schildert Stefan Andres vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges den Aufstieg einer Frau aus der Unbedeutendheit ihres Alltags ins Zentrum des Interesses der erhabenen Görlitzer Ratsversammlung. Angst und Hunger haben in ihr die Halluzination bewirkt, der Untergang der Welt stehe unmittelbar bevor. Dies und ihr Geltungsbedürfnis machen sie daher zur öffentlich auftretenden Prophetin des nahen Endes.

Die alte Babe trivialisiert in ihrer schlauen Ichbezogenheit die Alleinheitslehre des Schusters und philosophischen Mystikers Jakob Böhme, nach welcher Makrokosmos und Mikrokosmos vom gleichen Gesetz durchwaltet sind. Sie schließt ohne Bedenken vom vergeblich ersehnten Eierkuchen auf die Sonne und hält das Knurren ihres Magens für Donnergrollen.

Wie die Vertreter der Stadt auf ihre unheilvolle Verheißung reagieren, das entspricht ganz dem von Gegensätzen geprägten barocken Lebensgefühl von Lebenslust und Diesseitsflucht. Im Fall der alten Babe dominiert die Lebensgier die Angst. Die Prophetin genießt deshalb die von ihr geweissagten letzten Stunden nach dem Wahlspruch des carpe diem.

Die religiöse Infizierung des Zeitalters bringt es mit sich, dass man jedes Gerücht, jeden Fake für eine Weissagung hält und abergläubigen Phantastereien hinterherläuft. Da gerät selbst das besonnene Wort des Mystikers Jakob Böhme ins Zwielicht und führt zu seiner – ihm allerdings willkommenen – Einkerkerung. (Anhang)

Stefan Andres spiegelt die Zerrissenheit der Epoche in einer Stadtgesellschaft von unversöhnlichen Abergläubigen, religiösen Sektierern und Schwarmgeistern, die einen wahren Christen wie Jakob Böhme nicht in ihrer Mitte dulden wollen.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Der abgesagte Weltuntergang