Rundbrief Nr. 188 – Im August 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Mit der Kalendergeschichte „Die Spillermarie“ (1936) hat Stefan Andres eine Figur geschaffen, die auf unheimliche Weise für ihre Mitmenschen Schicksal spielt, da sie, vom eigenen Schicksal stiefmütterlich behandelt, auf Entschädigung aus ist.

So entwickelt sie eine bedenkliche Doppelexistenz: Mal erscheint sie als dämonisches Naturwesen und hinterlässt keine Spuren ihrer Herkunft, wenn sie Bewohnern ihres Dorfes den nahen Tod ankündigt; dann wieder ist sie die bemitleidenswerte alte Frau, die immer noch voll Wehmut einer vereitelten Liebesheirat nachtrauert, in der Alter und Vermögen ohne Bedeutung gewesen wären.

Die beiden Existenzweisen überlagern sich im Bild der Giebelfenster: mit der Spillermarie oben – äußerlich dominierend, aber vom Leben in trauter Gemeinsamkeit ausgeschlossen.

Nur für kurze Zeit genießt sie die Nähe einer Partnerschaft, als Wilhelm Feiger, der sich nicht traute, sich ihr anzutrauen, zum Witwer geworden ist. Nach dessen Tod jedoch vollzieht sich eine erneute Metamorphose, und die Spillermarie wird wieder zur Parze Atropos, die für das Durchschneiden des Lebensfadens zuständig ist.  

Mit Absicht verweist Stefan Andres mit dem Namen „Spiller“ auf die Spindel, die den Faden spinnt, und nicht zufällig ist die ewig gleiche Geschichte der Ménage-à-trois im epischen Präsens erzählt.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang zum Rundbrief Nr. 188