Rundbrief Nr. 162 – Im Oktober 2020

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Der vor 50 Jahren postum, aber noch im Todesjahr des Autors 1970 veröffentlichte Roman „Die Versuchung des Synesios“ wird zu Recht als das literarische Testament von Stefan Andres betrachtet.

Die um 400 n. Chr. spielende Handlung des Romans schildert die Auseinandersetzung des Christentums mit dem Gedankengut der griechischen Antike. Im Zentrum der Umwälzung steht Synesios, Gutsbesitzer in der griechisch orientierten Cyrenaika, der sich gezwungen sieht, das Amt eines christlichen Bischofs anzunehmen, obwohl er dem heidnischen antiken Denken verhaftet ist wie seine Lehrerin, die Philosophin und Mathematikerin Hypatia. Diese hochgebildete Frau wird ermordet, weil sie den Mut hat, in der bedrohlichen Situation weiter unbeirrt im Museion in Alexandria aus Platons Schriften zu lesen. Nicht weniger grausam ist das Schicksal des Synesios.

Stefan Andres macht die höchst brisante und menschheitsgeschichtlich bedeutsame Entwicklung zum Gegenstand seines letzten Romans, weil er glaubt, daran Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Zeit zu entdecken. 1959 erläutert er in einem Interview in Unkel am Rhein, woher sein Interesse an dem nur in der Ostkirche als Kirchenvater anerkannten Synesios rührt: Durch diese Gestalt aus dem 4. Jahrhundert, vor den Vandalenstürmen, könnte ich etwas aussagen, was unserer heutigen Endzeitstimmung entspricht. 

Der Protagonist des Romans, der aus der Position des philosophischen Betrachters in die Rolle des politisch Handelnden gedrängt wird, gewinnt Gestalt in den Worten seiner Frau Priska:

In seiner Bibliothek, wo er auch sein Bett stehen hatte, zeigte er mir seine Bücher: Platon und Plotin, noch in Rollen, und die in den letzten Jahren aufgekommenen Kodizes; Philosophen und Dichter, aber auch Bücher über den Ackerbau, die meist aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt waren; die Werke Theons, Mathematik also und Geometrie, auch Nachschriften von Vorlesungen der Hypatia, und endlich seine eigenen Werke, es waren erst einige Bände.   

In dem erwähnten Unkeler Interview äußert sich Andres unbestimmt zu der Frage, wie der Stoff in den Horizont seines Interesses geriet: Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich auf ihn kam. Das schließt aber nicht aus, dass er Kenntnis von dem Roman „Hypatia“ (1853) von Charles Kingsley hatte, wie auch die Herausgeberinnen im Nachwort der Editionsausgabe von 2013 vermuten. – In dem etwas melodramatisch gearteten, aber inhaltsreichen Roman bescheinigt Kingsley seiner Protagonistin Hypatia das Aussehen des grandest type of old Greek beauty. Und ebenso superlativisch nennt er Synesios the most finished gentleman of Pentapolis.

Auskunft über die Intensität der Beschäftigung mit seinem „Testament“ liefern Kommentare von Dorothee Andres in ihren Erinnerungen „Carpe Diem!“. Im Eintrag des Jahres 1960 schreibt die stets involvierte Frau des Schriftstellers: Ein für das Werk von Andres entscheidender Besucher, der Gräzist Albrecht Dihle, Professor an der Universität Köln, brachte wieder neue Literatur über den Bischof Synesios. Er ließ in seinem Seminar etwa die Hälfte der Briefe des Synesios für Andres übersetzen. Dieser Stoff hatte sich in seinen Gedanken bereits verfestigt … 1968 heißt es zum Schaffensdrang von Stefan Andres: Diesmal hatten wir im Hotel „Neroniane“ gebucht, dessen Schwimmbecken halb überdacht, halb im Freien liegt. Nach nur zehn Fangopackungen reisten wir ab, es drängte Andres zu Synesios.

Zitate:

Stefan Andres: „Die Versuchung des Synesios. Roman“. Neu hrsg. von S. von Blumenthal u. D. Weirich, Göttingen 2013.

Dorothee Andres: „Carpe Diem!“ Mein Leben mit Stefan Andres. Bonn 2009.

Charles Kingsley: Hypatia. London [o. J.].

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil