Rundbrief Nr. 164 – Im Advent 2020

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!

Stefan Andres hätte der Verwendung seiner Verse in der Münsteraner Adventspredigt von 2007 sicher zugestimmt, da diese auch sonst so ganz seiner geistigen Orientierung entspricht.

Hier ein Auszug mit dem einladenden Titel:

                                  Groß genug denken – 1. Advent A: Mt. 24,29-44

[…] Und denen wiederum, die taub sind für Jesu Endzeitpredigt, entgeht, dass sich für den Glauben die Welt nicht auf das beschränkt, was der Fall ist. Dass alles Geschaffene eine Zukunft hat, die nicht darin bestehen wird, dass alles bleibt, wie es ist. Das wäre zum einen mindestens so fatal wie ein apokalyptischer Feuersturm, der alles wegbrennt. Und zum anderen dächte, wer auf solches Beharren von allem hoffte, viel zu klein vom Menschen – als ob das, was wir haben, machen und lenken können, dem Sehnen unserer Seelen genügen könnte! Denker und Dichtende aller Zeiten wussten eben darum. Vielleicht ist es gut, wenn wir uns das manchmal wieder in unser eingefleischtes Status-quo-Denken hineinsagen lassen. Auf beeindruckende, weil ganz unverstellte Weise hat das vor langer Zeit auch einmal Stefan Andres getan. […]

1962 kam die Schulklasse einer gymnasialen Oberstufe, wie das damals hieß, auf die Idee, zeitgenössische Schriftsteller anzuschreiben und um Antwort zu bitten, was denn für sie der Sinn des Lebens sei. Andres gehörte zu denen, die den Fragern antworteten. Vor wenigen Monaten hat man seine Antwort im Nachlass derjenigen Schülerin gefunden, deren Aufgabe es gewesen war, sich an ihn zu wenden. Andres hatte ihr sogar in Versen geantwortet:

Trink weiter, du, der an den Sternen nimmt

Des Lebens Maß, die Arme breite weit

Und spür in deines Durstes Herrlichkeit

Die Herkunft, die zu keinem Maße stimmt

Als zu der goldnen Traube über dir

In deiner Nächte dunkelstem Spalier. *

An den Sternen Maß nehmen für das Leben – am Ewigen; am eigenen Durst, der von nichts, was man in der Hand haben kann, gestillt wird, ahnen, wo man herkommt – aus dem Ewigen, an das auch noch in der Kette der Dunkelheiten, als die unser Leben manchmal erscheint, die goldene Traube erinnert, geheimnisvolle Reminiszenz an den gottgeschenkten Schöpfungsgarten, dessen Vollendung sogar noch die Wunder seines Anfangs überbieten wird. So klingt adventliche Sprache von innen, die zu einer Erwartung ruft, die sich nicht mit zu Kleinem bescheidet, ohne deswegen in eine Art geistlichen Alarmismus zu verfallen. Advent von innen sozusagen. […]

Vielleicht fängt man tatsächlich erst an zu begreifen, was Advent eigentlich meint, wenn das Ende, das Überschreiten des Irdischen und die Freude in eines Menschen Seele keinen Widerspruch mehr bilden, ohne dass er darum das Ende herbeisehnen und von der Freude alles Irdische fernhalten müsste. Weil Gott alles in Händen hält und immer noch einmal mehr für uns übrighat, als wir uns ausdenken können. 

Auszug aus der Predigt zum 1. Advent 2007 des Seminars für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Münster.

* Terzette aus dem Sonett „Maß der Zeit“. In: Stefan Andres – Tanz durchs Labyrinth. Lyrik – Drama – Hörspiel. Hrsg. von Claude D. Conter, Wilhelm Große u. Birgit Lermen. Göttingen 2012.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft

                                                      mit adventlichen Grüßen

Ihr Wolfgang Keil