Rundbrief Nr. 190 – Im Oktober 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Stefan Andres‘ Anekdote „Der König im Gedränge“ (1938) erscheint zu einer Zeit, in der politisch geartete Schriften einer strengen Zensur unterworfen werden. Daher muss der Autor darauf achten, dass er systemgefährdende Begriffe wie „Freiheit“ und „Revolution“ in einen verharmlosenden Kontext hüllt.  

Bei dieser Texttarnung verfährt der Autor auf ähnliche Weise wie die Königsfigur der Anekdote, wenn er sich seinerseits hinter der Maske des neutralen Erzählers verbirgt, indem er die Antagonisten König und Volk mit scheinbar gleicher Ironie behandelt.

Die Anekdote schildert die Gedanken und Praktiken eines Potentaten, der sich, das Überschwappen der Pariser Revolution von 1830 auf seine Stuttgarter Residenz fürchtend, mit einer Maske versehen in die Menge seiner zum Hochzeitsmahl geladenen Untertanen mischt, um inkognito deren Stimmung und Stimmen zu erlauschen; die Anekdote scheint aber zugleich das Verhalten der „Landeskinder“ zu verspotten, die sich wirklich wie die Kinder auf die königliche Tafel stürzen und dabei ihr soeben noch deutlich propagiertes Freiheits- und Revolutionsbegehren vergessen.

Durch ironische Verkehrung verdächtig gemacht werden vor allem die Journalisten. Die etablierte Macht hält deren „raschelnde Zeitungssprache“ für geeignet, das Volk zum Widerstand aufzustacheln, indem sie die bestehende Ordnung als Bevormundung und Unterdrückung denunziert. – Durch den Scheinangriff auf die Schreibzunft versucht der Autor, sich vor dem Zensor zu schützen. Die Camouflage kann jedoch nur solange gelingen, wie das Manöver nicht durchschaut und die Kennzeichnung des schreibenden „Demagogen“ nicht als ironisch verdecktes Selbstporträt gelesen wird.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 190