Sehr geehrte Damen und Herren. liebe Leserinnen und Leser!
In seiner heiter-ernsten Legende „Vom heiligen Pfäfflein Domenico“ (1936) verwendet Stefan Andres den Topos vom schlichten Christen, der sein echtes Christentum lebt, als Instrument der Kritik. Er verfährt damit wie Walther von der Vogelweide, der im „Reichston“ (um 1200) einen einfachen Klausner über die politischen Widrigkeiten seiner Zeit klagen lässt: „… hilf herre, diner kristenheit!“ Walther wiederholt diese Klagegeste im „Unmutston“ („… min guoter klosenaere klage“) und „Kaiser Friedrichs-Ton“. – Auch Andres stattet weitere rangniedrige Repräsentanten des Christentums mit den Eigenschaften echter Menschlichkeit aus: Don Eufemio („Das goldene Gitter“, 1943) und Don Evaristo („Das Tier aus der Tiefe“, 1949). – Und so schildert Stefan Andres Don Domenicos Berufung zum Festprediger:
Am Himmelfahrtstag des Herrn, als die Glocken im Dom von Poseidonia zum Hochamt läuteten, lief der Küster, vom hageren Don Beppo geschickt, in die Schenke des Peppino hinauf, wo er Don Domenico mit Bestimmtheit anzutreffen wusste. Der lag denn auch dort in der Schenke auf einer Bank und schnarchte, ermüdet von seiner bereits zelebrierten Frühmesse und vom Wein ein wenig benommen. Und als ihn der Küster mit heftigem Rütteln aufweckte und ihm zurief: „He, Don Domenico, kommt sofort zum Dom herunter, der Don Beppo hat seine Predigt vergessen!“, da erhob sich Don Domenico alsbald und ging mit dem Küster fort, über welche Bereitwilligkeit die Anwesenden in großes Lob ausbrachen und sagten: „Ja, der Don Domenico ist wahrhaftig das Muster eines Priesters, ob’s der Prälat Don Beppo glauben will oder nicht!“ Es war nämlich männiglich bekannt, dass Don Domenico in dem Maße, als ihn die einfachen Leute von Poseidonia liebten, bei seinen Oberen missliebig war, eben weil sie eifersüchtig waren auf die Liebe und Verehrung, die er genoss.
Die Schilderung vom Traum der eigenen Himmelfahrt und der Ankunft in einem himmlischen Poseidonia gibt dem Prediger die Möglichkeit, einige Dinge im realen Poseidonia zurechtzurücken, und zwar ganz der christlichen Maxime folgend, dass das Niedrige erhöht werde …
Der Herr aber ließ einige himmlische Karabinieri kommen, die eine Musterung unter den Fremden auf der Piazza hielten. Und alle, die ein wenig nach Wein dufteten, Fischerhosen und Sandalen trugen oder doch nicht mehr als zwei mittlere Koffer mitgebracht hatte, durften bleiben, die anderen mussten ihr Gepäck holen und wurden in ein Boot gesetzt, das sie wieder zur Erde hinüberschiffte. Nach dieser Unterbrechung, die aber über die Maßen kurzweilig war, bewegte sich die Prozession die Domstufen hinauf. Da saß unsere gute, alte Theresa und trank durch ihre Hasenscharte die Sonne ein, hatte die Augen halb geschlossen und träumte vom Paradies. Vom fröhlichen Getümmel und Gejauchze geweckt, erblickte sie plötzlich unseren schönen Herrn, verdeckte mit der Hand ihre Hasenscharte und wollte entweichen, wurde aber von den Aposteln am Rockzipfel gehascht und vor den Herrn gebracht. „Ei, Theresa“, sprach er, „fortlaufen willst du vor mir und hast dein Leben lang nach mir gerufen?“ und er machte sie zu seiner Türhüterin; am Eingang seines Palazzo durfte sie wegen ihrer Treue als das Hündlein des Herrn in der Sonne liegen und achtgeben, wer da komme und gehe.
Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen
Ihr Wolfgang Keil