Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser!
In seiner Erzählung „Die beiden Pharaonen“ („Positano. Geschichten aus einer Stadt am Meer“, 1957) schildert Stefan Andres die Aktivitäten des Urlaubers Bouterwek, eines sehr deutschen Besuchers von Positano in prätouristischer Zeit.
Der Mitteleuropäer Bouterwek hat sich vorgenommen, den südlichen Ort seiner von Nietzsches „Zarathustra“ beeinflussten kruden Allmachtsvorstellung zu unterwerfen und das verschlafene Nest dabei zugleich in die rational-wissenschaftlich orientierte Neuzeit zu katapultieren. Seine erste Tat besteht daher sowohl symbolisch als auch realiter in der Anpassung des malerischen Küstenortes an die allgemein gültige, zuverlässige und korrekte Zeitrechnung, die er mit der Reparatur der Uhr am Campanile des Doms von Positano herbeiführen lässt. Da er dies auf eigene Rechnung tut und weil sein weißer Anzug Respekt heischt, nennen ihn die Positanesen fast ehrfurchtsvoll „Signor Barone“.
In einem weiteren Modernisierungsschritt nimmt Bouterwek die hygienischen Verhältnisse des verträumt-säumigen Bergstädtchens in Angriff. Seine Kampagne gipfelt im Aufruf zu einer Impfaktion, von der vor allem die Kinder profitieren sollen. Das Echo ist nicht ganz ungeteilt.
Die von Andres verfolgte Erzählabsicht bringt es mit sich, dass die aktuell anmutende Impf-Episode zur anschaulichen Schilderung des Milieus und der unterschiedlichen Mentalitäten gerät. Dabei wahrt der „Lokalchronist“ eine ironisch-heitere Balance, mit der er – jegliche plumpe Parteinahme meidend – ebenso einfühlsam wie kritisch die beiderseitigen Vorstellungen und Belange austariert.
Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen und
mit den besten Wünschen für das Jahr 2022!
Ihr
Wolfgang Keil
Anhang: „Die beiden Pharaonen“ (Auszug) und ein aktueller Lektürehinweis.