Rundbrief Nr. 155 – Im Mai 2020

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser,

Nikolaus Cusanus ist mein Landsmann, und die Grundsätze seines Denkens stehen mir sehr nahe.

Mit diesen Worten in einem Brief von 1945 an den italienischen Kunsthistoriker Guido di Stefano („Briefe von und an Stefan Andres 1937-1970“. Hg. G. Nicolin u. G. Guntermann. Göttingen 2018.) bekennt sich Stefan Andres ausdrücklich zur Philosophie des großen Cusaners, der im 15. Jahrhundert die Moderne einläutet.

So verwundert es nicht, dass Stefan Andres sich den Kerngedanken der cusanischen Philosophie zu eigen macht. In seinem Essay „Über die ‚ernste Sache‘ der Freude“ von 1962 übernimmt er die Vorstellung der Cusaners von der Einheit der Welt:

… die Ewigkeit, die Nikolaus Cusanus überraschend einfach und himmlisch nüchtern das „Ganze gleichzeitig“ nennt.  („Der Dichter in dieser Zeit. Reden und Essays“. Hg. Ch. Andres und M. Braun. Göttingen 2013.)

Die Sehnsucht nach dem Ur-Bild (“visus absolutus“), nach der Teilhabe an dem Einen, in dem die Gegensätze aufgehoben sind, bewegt Stefan Andres wenige Tage vor seinem Tod am 29. Juni 1970 zu der Geste, von der Dorothee Andres in „‘Carpe Diem!‘ Mein Leben mit Stefan Andres“ berichtet:

Einmal zeigte er auf einen Vogelschwarm, der über der Stadt seine Kreise zog: „So möchte ich über der Welt schweben“, und zitierte Nikolaus Cusanus „Das Ganze gleichzeitig erleben“.

Und selbst in seinem Sachbuch Die Großen Weine Deutschlands“ (1960) manifestiert sich die große Wertschätzung, die Andres für seinen Landsmann von der Mosel hegt:

Kues ist der Geburtsort des Kardinals Nikolaus Cusanus, Vorläufer des Kopernikus, Christ und Platoniker, der erste „moderne Denker“ des Abendlandes. In seinem Testament befahl er, sein Herz nach Kues heimzubringen, in der Kapelle des Nikolaus-Spitals fand es seine Stätte.

Und zu eben dieser Kapelle geleitet uns auch der Schriftsteller Norbert Scheuer, derTräger des Stefan-Andres-Preises 2020, der die Begegnung mit Nikolaus von Kues in seinem Roman „Winterbienen“ (München 2019) zu einem eigenen Thema erhebt:

Wir schifften uns ein und fuhren den Rhein hinunter nach Koblenz, über die Mosel bis nach Cues. Das Herz des Cusanus wurde sodann in der Stiftskapelle am Fuße des Altars unter einer goldenen Kachel eingelassen. … die Lehren des Cusanus für die Nachwelt festzuhalten.

Der Erzähler Egidius Arimond übersetzt mit diesen Worten den Bericht seines Urahns, Ambrosius Arimond, vom Transport des Herzens des Kardinals Cusanus nach Cues im Jahr 1489. Der Weg führt von Rom, wo in San Pietro in Vincoli der Leichnam beigesetzt wurde, über die Alpen an die Mosel.

Die StAG freut sich, in Norbert Scheuer einen Preisträger zu haben, dessen literarisches Werk dem Geist von Andres verwandt ist.

(Der Termin für die feierliche Verleihung des Andres-Preises der Stadt Schweich an Norbert Scheuer muss wg. der Pandemie leider noch offenbleiben.)

Im Namen der Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil