Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser!
Stefan Andres und Norbert Scheuer begegnen einander nicht nur am entlegenen Hindukusch in Afghanistan (Rundbrief Nr. 173) und im Trierer Dom (Rundbrief Nr. 174), sondern auch am einsamen Walden Pond bei Concord, Massachusetts.
In der relativen Zivilisationsferne dieses Sees hat sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts Henry D. Thoreau angesiedelt, um sein Leben ganz dem Walten der Natur anzupassen. Sein Experiment in „essential living“ schildert er in dem Essayband „Walden oder Leben in den Wäldern“ („Walden, or, Life in the Woods“), der 1854 veröffentlicht wurde. Während Thoreaus Schrift „Vom zivilen Ungehorsam“ („On the Duty of Civil Disobedience“) nach Gandhis Übernahme der Methode des passiven Widerstandes in viele freiheitlichen Bewegungen hineingewirkt hat, blieb der zivilisationskritische Bericht vom „Walden Pond“, in dem Natur, Gefühl und geistige Erfahrung zu einem Ganzheitserlebnis der unschwärmerischen Mystik Thoreaus zusammenfließen, eher im Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins.
Nicht so allerdings bei Stefan Andres und Norbert Scheuer. Diese Schriftsteller interessiert das Leben in der Stille und Abgeschiedenheit des Walden-Sees so sehr, dass sie es zum Gegenstand ihres Schreibens machen. Stefan Andres würdigt Thoreau in seinem Essay „Henry David Thoreau, der Eremit von Walden Pond“. Darin wirken manche Gedanken wie vorweggenommene Fußnoten zu Norbert Scheuers Roman „Die Sprache der Vögel“, in welchem sich der Protagonist Paul Arimond ausdrücklich auf den amerikanischen Philosophen bezieht: Jetzt lese ich Thoreau und verstehe vieles anders als früher, viel besser glaube ich.
Stefan Andres schätzt in dem „seltsamsten aller Amerikaner“ den Naturmystiker, von dem er schreibt: Er kannte das Kragenwaldhuhn, wechselte mit der Bisamratte Blicke und redete mit dem Murmeltier jene ekstatische Ur-Sprache, die alles mit allem verbindet. Dem entspricht bei Norbert Scheuer Paul Arimonds Überlegung zur Kommunikation der Vögel: Ich lehne mit dem Rücken am Geländer, höre einen Sumpfrohrsänger trillern und stelle mir vor, wie er während seiner Wanderschaft viele andere Vogelsprachen lernt, alle Sprachen jener Länder, durch die er zieht – ein polyglotter kleiner Gesangskünstler.
Nach Stefan Andres erreicht der Naturmystiker das Ziel seiner Bestrebungen, wenn er in die zivilisationsenthobene Ruhe der Schöpfung eingeht: … wo die Person aufhörte und ihren Punkt auf der kreisenden Scheibe der Erscheinungen aufgab und in die Mitte geriet, wo alles stille stand, wo die Ruhe war und also der Ursprung der Bewegung. Ähnlich empfindet das der Protagonist Paul Arimond in „Die Sprache der Vögel“: … ich habe das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen und zugleich rasend schnell vergehen, wie in einem herumwirbelnden Karussell, in dessen Zentrum ich in einem Schwebezustand lebe. – Daher wohl Pauls Wunsch: Ich wollte eine Elster sein.
Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. Roman. München 2015.
Stefan Andres: Henry D. Thoreau, der Eremit von Walden Pond. In: Stefan Andres: Der Dichter in dieser Zeit.
Stefan Andres: Reden und Essays. Hg. Chr. Andres und M. Braun. Göttingen 2013.
Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen
Ihr
Wolfgang Keil