Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Leserinnen und Leser!
In seiner als Rezension verkleideten Anekdote Ehrenvoller Diebstahl (Kölnische Zeitung vom 22. 1. 1941) zollt Stefan Andres der chinesischen Kultur seinen Respekt.
Er zitiert in seinem Text eine Passage aus dem 240 v. Chr. entstandenen Weisheitsbuch Frühling und Herbst des Lü Bu We, um vordergründig mit dem darin enthaltenen Beispiel chinesischer Denkakrobatik am Trapez der Paradoxien auch die geistige Höhe des enzyklopädischen Werkes zu demonstrieren.
In erster Linie aber geht es Andres bei dem zitierten Auszug aus Was der Fürst wahren muss (Buch XVII, Kapitel 2) um die Vorstellung einer politisch reifen Staatsführung, der von einer wie im phrygischen Gordion orakelten Verheißung imperialer Machtentfaltung erfolgreich abgeraten wird. – Mit dem kommentierten Zitat betreibt Andres eine ebenso mutige wie klug inszenierte Regimekritik.
Andres-Forscher M. Moßmann nennt in seiner Studie Süße Oliven in Salzwasser den von Siegesmeldungen des Kriegsjahres 1941 umgebenen Zeitungsbeitrag das „Meisterstück“ des regimekritischen Schriftstellers Andres.
Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen
Ihr
Wolfgang Keil
[Verknoteter Rat]
Werden wir selber einmal beispielhaft, vergleichen wir die Geschichte des Gordischen Knotens mit der folgenden: Ein Mann aus Lu schenkte dem König Jüan von Sung einen Knoten. Der König ließ einen Befehl durch sein ganzes Land gehen, dass alle geschickten Leute kommen und den Knoten auflösen sollten. Aber niemand vermochte ihn aufzulösen. Ein Schüler von Erl Schuo bat um die Erlaubnis, hinzugehen und ihn auflösen zu dürfen. Aber er konnte nur eine Hälfte auflösen, die andere Hälfte konnte er nicht lösen. Da sprach er: „Es ist nicht so, dass man ihn auflösen kann und nur ich ihn nicht aufzulösen vermag, sondern er lässt sich überhaupt nicht auflösen.“ Man befragte den Mann von Lu. Der sprach: „Ja, man kann ihn wirklich nicht auflösen. Ich habe ihn gemacht und weiß, dass er nicht auflösbar ist. Aber einer, der ihn nicht gemacht hat und doch weiß, dass man ihn nicht lösen kann, der muss noch geschickter sein als ich.“ So hat der Schüler des Erl Schuo den Knoten dadurch gelöst, dass er ihn nicht gelöst hat.
Wer würde nicht eingestehen müssen, dass der Schwertstreich des tüchtigen Alexanders gegen die Erkenntnis des Schülers von Erl Schuo einen Bubenstreich bedeutet? Dabei ist es aber der Chinese, der sagt: „Zu vieles Denken schadet nur, zu viele Bemühung um Einzelfähigkeit bringt nur Unheil! Zu viel Rechthaben macht verrückt!“
Auszug aus: Ehrenvoller Diebstahl ‚Frühling und Herbst des Lü Bu We‘ von Stefan Andres.In: Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933 – 1945. Göttingen 2010.
Andres zitiert nach Frühling und Herbst des Lü Bu We. Aus dem Chinesischen übersetzt u. erläutert von Richard Wilhelm. Originalausgabe 1928 bei Eugen Diederichs in Jena.