Rundbrief Nr. 201 – Im Juli 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Die LiteraTour der StAG zu Andres-Schauplätzen und zur Grimburg führte auch nach Beuren, dem Geburtsort der Mutter des Schriftstellers. Das war Anlass zum Vortrag einer dort spielenden Episode aus dem Erinnerungsroman „Der Knabe im Brunnen“ (1953).

Darin schildert Stefan Andres, wie der siebenjährige Steff seiner älteren Base dadurch zu imponieren versucht, dass er ihr allerlei skurrile Unwahrscheinlichkeiten auftischt. Mit der Erfindung des Messdiener-Steff überschreitet er jedoch gleich zu Anfang die Grenze der Glaubwürdigkeit. (Anhang)

Angesichts der kaum zu zähmenden Tendenz zur fabulierenden Veränderung der Welt wird man weder den erfinderischen Steff noch seinen ähnlich veranlagten Schöpfer Stefan im poesiefeindlichen „Staat“ des politisch-philosophischen Architekten Platon antreffen, denn dieser zeiht die Dichter generell der Beschwörung einer trügerischen Welt aus Schatten von Schatten.

Vielleicht hätte Platon die Erzähler Steff und Stefan nicht gänzlich aus seinem Idealreich verbannt, aber der strenge Philosoph hätte die beiden aus moralisch-erzieherischen Gründen sicher unter strenge Bewachung gestellt mit den Worten, die er schon gegen die großen mythischen Dichter Homer und Hesiod gerichtet hat:

„… von Homer an ahmen alle Dichter nur ein Scheinbild der Vollkommenheit und der übrigen Dinge nach, über die sie dichten, erfassen aber die Wahrheit nicht.“

„Indessen haben wir noch nicht die größte Anklage gegen die Dichtung vorgebracht! Dass sie die Kraft hat, auch vortreffliche Menschen zu schädigen – mit wenigen Ausnahmen –, das ist wohl furchtbar!“

In einem Staat, in dem „von allen Dichtungen allein die Hymnen auf die Götter und die Loblieder auf gute Menschen“ zugelassen sind, würde also selbst der kleine Steff unter Kuratel gestellt werden gemäß der Anweisung Platons: „Fürs erste müssen wir die Märchendichter bewachen.“ 

Da wäre es doch besser, man lebte jenseits dieses puritanischen Gemeinwesens in der Verbannung, wo man die poetische Mélange von Fakt, Fiktion und Flunkerei genießen darf.

Für die Stefan Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Vom Messdienerlatein zum singenden Adler

Rundbrief Nr. 200 – 26. Juni 2023

Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Leserinnen und Leser!   

                                                        Stefan Andres zum Geburtstag!

Als Stefan Andres am 26. Juni 1906 das Licht der Welt erblickt, ist er schon von seinen Eltern für das Priesteramt bestimmt. Das ist dem kleinen Steff durchaus bewusst beim ersten Besuch des Trierer Domes. 

In dem imposanten Gotteshaus, das für Antike und Christentum steht, begegnet er zu seiner Freude der Kaiserin Helena und ihrem Sohn Konstantin!

Regional gefärbte Legenden haben den Knaben mit diesen großen christlichen Gestalten vertraut gemacht, und so kann er sie nun hier als alte Bekannte begrüßen – den Kaiser Konstantin sogar als vertrauten Nachbarn, denn diesem soll Christus „auf dem Berg Kron, also neben unserer Mühle im Dhrontal, mit dem Kreuzesbanner“ erschienen sein.

Dem Welteroberer Konstantin gedenkt der kleine Steff jedoch nicht nachzueifern. Er wählt vielmehr ein Ziel, zu dem ihn andere große Nachbarn ermutigen: Kardinal Nikolaus von Kues erlangt als Kardinal und Philosoph Berühmtheit, und Johannes Trithemius findet als Abt und Humanist europaweite Anerkennung.

Der kleine Steff hätte mit einem Schönheitssinn, der sich an dem „schönen roten Käppchen“ eines Bischofs entzündet, tatsächlich ein kunstliebender Kirchenfürst werden können, aber seine Zeiten und Klassen überbrückende und dabei lebendige Begegnungen schaffende Phantasie weist schon deutlich in Richtung schöpferisches Tun. – Und so wurde aus dem kleinen Steff schließlich ein großer Schriftsteller.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil 

Anhang: Nachbarn und Vorbilder des kleinen Steff

Rundbrief Nr. 198 – Im Mai 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,     

liebe Leserinnen und Leser!

Die Stefan-Andres-Gesellschaft veranstaltet am Samstag, dem 24. Juni, eine LiteraTour zu Andres-Schauplätzen im Hunsrück und an der Mosel sowie zur Grimburg, einer der „sieben trierischen Landesburgen“. Es erfolgen Lesungen aus Andres-Werken in: Neu-Mehring (Das Wirtshaus zur weiten Welt), Beuren (Der Knabe im Brunnen) und Trittenheim (Die unsichtbare Mauer). Einen zusätzlichen Schwerpunkt der Fahrt bilden die Grimburg, wo im 16. u. 17. Jh. Hexenprozesse stattfanden, und das Burg- und Hexenmuseum mit der Sonderausstellung „Hexentod“.  – Die Fahrkostenbeteiligung (incl. Museumsbesuch) beträgt 15 €. Gäste sind willkommen. Abfahrt: 10.00 Uhr, Schweich, Parkplatz Stefan-Andres-Straße. Anmeldungen bitte bis zum 10. Juni bei kastner.schweich@gmail.com, 06502/937648 oder wokeil40@t-online.de, 0651/67177. – Eine Einladung mit ausführlicher Programmbeschreibung folgt im nächsten Rundbrief.

                                                      Inquisition und Hexenverfolgung

In den Problemhorizont von Unaufgeklärtheit und Verfolgungswut, der sich mit dem Besuch des Burg- und Hexenmuseums in Grimburg und der Vorstellung des einstigen Grimburger Hochgerichts eröffnet, fügt sich die Darstellung des Inquisitionsgeschehens der Novelle „El Greco malt den Großinquisitor“ (1935) von Stefan Andres ein. Der junge Schriftsteller macht es sich darin zur Aufgabe, die Gewaltausübung der Kirche im Spanien des 16. Jahrhunderts  und – durch diese verdeckt – den ideologischen Terror des nationalsozialistischen Unrechtsstaates anzuprangern. – Schon der Anfang der Novelle, die der Autor in der schützenden Zurückgezogenheit des Riesengebirges verfasste, beschwört im panischen Erschrecken des Protagonisten die Atmosphäre der Angst herauf. (Anhang)

In Josefine Wittenbechers Roman „Feuer am Fluss. Der Fall Eva Zeihen“ (2004) wird man ebenfalls in die Wirrnisse des 16. Jahrhunderts versetzt, jedoch entstammen Täter und Opfer der Verfolgung unserer nächsten Nachbarschaft, und hier wird auch die sog. hochnotpeinliche Befragung  durchgeführt: Zum Maximiner Hochgericht Fell gehörte auch das Dorf Kenn, also hatte Fell der Ort der Verhandlung zu sein.

   Der Roman erzählt die authentische Geschichte einer jungen Frau aus Kenn zur Zeit der Hexenverfolgung, die – wie die Inquisition bei Andres – das gesamte Geschehen in eine von Angst und Schrecken durchtränkte Atmosphäre taucht. (Anhang)

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Die Ohren der Inquisition

Rundbrief Nr. 197 – Im April 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seinem Beitrag „Große Geister und der Wein“ (TV vom 1./2. April) stellt der Kolumnist den Schriftsteller Stefan Andres in eine Reihe mit anderen berühmten Weinliebhabern wie Johann Wolfgang Goethe oder Karl Marx. Dabei zitiert er aus Andres‘ Buch „Die großen Weine Deutschlands“, das auch lange nach seinem Erscheinen im Jahr 1960 noch Auskunft geben kann über Deutschlands beste Weinlagen.

Als ebenso informativ, aber ungleich unterhaltsamer erweist sich das 1951 von Stefan Andres veröffentlichte Weinbuch mit dem wortspielerisch persiflierenden Titel auf die wenige Jahre zurückliegende politische Vergangenheit: 

            „Main Nahe(zu) Rhein Ahrisches Saar Pfalz Mosel-Lahnisches Weinpilgerbuch“.                              

Das kleine Buch gibt Auskunft über den Weg der Weinrebe nach Mitteleuropa, über die deutschen Weinlagen, die Arbeit im Weinberg, die Bedeutung der Weinnamen, die rechte Art des Genusses und nicht zuletzt auch über die frühgeschichtlichen Anfänge der Rebenkultivierung.

Die vinologischen Ausführungen im „Weinpilgerbuch“ finden ihre ideale Ergänzung im kulturgeschichtlich bedeutsamen Mythos vom Archenbauer Noah. Stefan Andres feiert den Kulturstifter in seinem Roman „Noah und seine Kinder. 15 Legenden“. Dieses Separatum aus der Sintflut-Trilogie wurde 2022 kritisch ediert von Armin Erlinghagen.  

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Auszüge aus dem „Weinpilgerbuch“.

Rundbrief Nr. 196 – Im März 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Wie zum Osterfest die Heilige Familie nach Jerusalem pilgerte, schildert Stefan Andres sehr eindrücklich in der Episode „Der Knabe Jesus im Tempel“ seiner Nachgestaltung der Heiligen Schrift:

                            „Die Biblische Geschichte. Erzählt von Stefan Andres“ (1965).

Die Andres-Version ist für den theologischen Laien gedacht. Deshalb nähert der Romancier Andres die biblische Textfolge dem sog. „roman fleuve“ an, der inhaltliche Anschaulichkeit und psychologische Stimmigkeit in einer Breite vermittelt, die oft weit über das Original hinausreicht.

So übersteigt z. B. der Umfang der Schilderung von Jesu Tempelbesuch bei Andres die Darstellung des Evangelisten Lukas (2,41-2,52) um das etwa Dreifache, sodass das Wunderbare in ein glaubwürdiges Realgeschehen eingebettet erscheint.

Im Nachwort schreibt Andres: „In der Auswahl des Stoffes ließ ich mich bestimmen allein von der Absicht, die Gestalt Jesu – gewissermaßen sein Gesicht – den Menschen meiner Zeit nahezubringen und seine Lehre, rücksichtslos und von aller (auch sakraler)  Mundart befreit, auf den Markt zu bringen.“

                                               ***

Vor religiös-geheimnisvollem Hintergrund, wie an dem Nimbus des Jesusknaben erkennbar, spielt auch die sonst naiv-realistisch gestaltete Tempelszene in der Kopie eines Gemäldes des „Nazareners“ Heinrich Hofmann, die der Schweicher Kirchenmaler Nikolaus Heiderich (1874-1928) angefertigt hat. 

Da fügt es sich, dass die Heiderich-Erbin M. R. Baechler im Januar 2023 die StAG mit einer Schenkung bedacht hat, die neben einem Original des Kirchenmalers die erwähnte Nachgestaltung beinhaltet, die jetzt im StA-Museum zu sehen ist.

Diese religiös bedingte Text-Bild-Beziehung ist eine zwar schmale, aber doch einladende Brücke zwischen den Werken von Stefan Andres und Nikolaus Heiderich.

Eine ähnliche Verbindung ergibt sich von  dem in der Andres-Novelle „Der Abbruch ins Dunkle“ geschilderten Brand der alten Schweicher Kirche zur Ausmalung der neuen Pfarrkirche im Jahre 1906 durch N. Heiderich.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft

                                              mit den besten Grüßen zum Osterfest!

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 196

Rundbrief Nr. 195 – Im Februar 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Trier, Ort römisch-antiker Kultur und Hort christlicher Tradition, war schon für den jungen Stefan Andres von höchster Anziehungskraft. Als „kleiner Steff“ fiebert er in seinem Erinnerungsroman „Der Knabe im Brunnen“ der Fahrt in die Stadt entgegen, die mit ihren römischen und mittelalterlichen Monumenten die Phantasie des kleinen Steff beflügelt.

   Aber er hat auch die warnenden Worte seiner Mutter nicht vergessen, die meint, die Stadt habe ihre „Nücken“.

   Damit drückt sie die von Misstrauen geprägte Ansicht der Landbevölkerung aus, dass die Städter darauf aus sind, sie bzw. die Landbevölkerung zu übervorteilen.

   Anders als die Mutter sieht der Romancier Andres jedoch beide Seiten kritisch, und man schmunzelt beim Lesen der vergnüglichen Episode vom Stadtbesuch einer Figur aus dem Roman „Die unsichtbare Mauer“ (1934) sowohl über die Naivität des bäuerlichen Müllers Eucharius als auch über die Tücke einer „verderbten“ Städterin. (Anhang)

   Eucharius ist meuchlings der Schnurrbart zur Hälfte abgeschnitten worden. Zur Ahndung dieses Frevels bittet er einen Trierer Anwalt um Hilfe. Auf dessen Rat hin verzichtet er auf eine Strafverfolgung und lässt sich stattdessen den Schnurrbart ganz entfernen. Der so neu Hergestellte betritt in „Zufriedenheit mit sich selber“ in der Nähe des Trierer Hauptmarktes ein zweifelhaftes Lokal, wo sich ihm ein nicht weniger zweifelhaftes Fräulein nähert.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 195

Rundbrief Nr.194 – Im Januar 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Mit seiner Anekdote „Der siebente Paragraph“ (1937) scheint Stefan Andres Goethes Erkenntnis aus dem West-Östlichen Divan bestätigen zu wollen, dass das Leben wunderbar gemischt ist.

   Die Ironie des Schicksals will es nämlich, dass Kalixtus Salzfuß, ein kunstbeflissener Sammler, durch den Ankauf eines gestohlenen Bucheinbandes erst zum Hehler von Diebesgut, dann zum Erretter des zum Tod verurteilten Diebes und in der Folge sogar zum Vertreter von Gesetz und Recht wird – der Gesetzesübertreter wird ehrenhalber zum Gerichtsassessor ernannt.  

   Den Schritt zur Straftat empfiehlt dem Kunstsammler Salzfuß ausgerechnet der nach Martin Luther zitierte Sinnspruch auf dem kostbaren Bucheinband „Wer was hat, der halt‘ – Unglück das kömpt bald“. Aus der Peinlichkeit der Gesetzesübertretung aber befreit ihn die Lektüre des eben in diesem Bucheinband enthaltenen Strafgesetzbuches mit dem Paragraphen, der die Aufhebung des Todesurteils vorschreibt, das schon über den Dieb des Kunstgegenstandes gesprochenen ist.

   Die Revision des Urteils kommt allerdings nur zustande, weil ein fachlich unkundiger, aber menschlich denkender Gerichtspräsident bereit ist, den Richtspruch im Sinne des Paragraphen zu ändern, auf den Salzfuß ihn durch seine „unrechtmäßig“ erworbene „Rechtserfahrung“ hinzuweisen vermocht hat.

   Das verworrene Schicksal aber, das dem Menschen ausgerechnet aus seiner Harmlosigkeit erwächst, bannt Stefan Andres qua Erzähler in die Worte des Oxymorons „das gefährliche Glück“.   

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 194

Rundbrief Nr. 193 – Im Dezember (2) 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

Vor mehr als einem halben Jahrhundert geht Stefan Andres in seinen „Gedanken zur Weihnacht“ der immer aktuellen Frage nach, wie dem Menschen und der Welt geholfen werden kann. Seine Antwort führt ihn zum besonderen Selbstverständnis des Christen.

Während im Alten Testament auch die großen Verkünder und Mahner letztlich nur Beauftragte einer göttlichen Instanz waren, die wie der Prophet Jona im Andres-Roman „Der Mann im Fisch“ (1963) mit Gott rechteten und sogar vor ihm zu fliehen suchten, können Christen ihrer Bestimmung nicht ausweichen: Sie müssen sich angesichts der Menschwerdung des Gottessohnes als Brüder Christi betrachten.

Was sie aber so unendlich adelt, sollte sie zugleich mit einem metaphysischen Schrecken erfüllen. Sie würden dann nicht mehr davon ausgehen, dass schon im frommen Singen und gläubigen Feiern der Sinn des Festes der Menschwerdung Christi besteht, sondern, dass nur der den Ehrentitel Bruder verdient, der die „unbedingte Forderung des Glaubens“ (J. Klapper) nach Mitmenschlichkeit erfüllt.

In dieser eigentlichen „Menschwerdung des Menschen“ selbst besteht für Stefan Andres das Geheimnis der Weihnacht.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft 

mit den besten Wünschen zum Weihnachtsfest und zum neuen Jahr

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Gedanken zur Weihnacht

John Klapper: „Stefan Andres, der christliche Humanist als Kritiker seiner Zeit“. Bern 1998, 216 Seiten. 

In seiner Monographie zu Werk und Leben des Schriftstellers liefert Prof. J. Klapper von der Birmingham University wertvolle Beiträge, auf die man mit Gewinn bei der Andres-Lektüre zurückgreifen kann. Sie ist zum Sonderpreis von 15 € bei der StAG erhältlich.

Rundbrief Nr. 192 – Im Dezember 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!                                    

In seiner Sintflut-Trilogie (1949 – 1959) lässt Stefan Andres den schriftstellernden Goldschmied Clemens eine mythisch anmutende Sintflut-Erzählung verfassen. Die Episoden fügen sich kapitelweise wie Intarsien in den Haupttext ein, verbinden sich aber enger als solche Einlegearbeiten mit der Grundfläche, so dass beim Lesen wechselseitige Beziehungen zwischen den Figuren und Handlungen der verschiedenen Romanebenen entstehen. 

Geradezu mit Spannung erwartet man daher die Reaktion des Romanprotagonisten auf den Vortrag einer Greuel-Episode aus den Noah-Legenden, in der dem Exponenten brutaler Gewaltherrschaft ebenso mutig wie schonungslos der Spiegel vorgehalten wird.

Da die Legenden-Reihe sowohl innere Geschlossenheit als auch inhaltliches Gewicht aufweist, konnte sie als eigenständiges Separatum veröffentlicht werden. Sie ist unter dem Titel „Noah und seine Kinder“ erstmals 1968 in Buchform erschienen.

Seit Beginn des Jahres 2022 liegt nun der Legenden-Zyklus in einer kritischen Ausgabe des StAG-Mitgliedes Dr. Armin Erlinghagen vor. Sie ist für Mitglieder zum Vorzugspreis von 27 € bei der StAG erhältlich (Ladenpreis 45 €).

In der für den Anhang gewählten Passage aus der auf babylonischen Flutsagen beruhenden biblischen Erzählung über Strafe und Vergebung Gottes nimmt Stefan Andres die spätere messianische Erwartung, die Hoffnung auf Befreiung und Erlösung, vorweg. Der Weg aus der Finsternis der Flut gipfelt mit seiner Lichtmetaphorik in einer Epiphanie: Das Bild der Sonne wird zum „Spiegel des Freundlichen“.

Noahs Verhalten in dieser Feier des Lichtes erinnert an die Einsicht des von Schuld genesenen Faust im Zweiten Teil der Tragödie von J. W. Goethe. Allerdings indiziert das Schlüsselwort „Abglanz“, das die Texte verbindet, einen je unterschiedlichen Grad von Transzendenz, wie die Gegenüberstellung zeigt:

     „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“ (Faust)

     „… noch der Abglanz seines Angesichts blendet. Doch lasst euch von ihm

     ansehen jede Stunde, und ihr werdet das Leben haben.“ (Noah)

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit adventlichen Grüßen                   

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang