Rundbrief Nr. 185 – Im Mai 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Leserinnen und Leser!

In seinem West-Ost-Roman Die Dumme (1969) verarbeitet Stefan Andres Gedanken der Essaysammlung Verführtes Denken (1953) von Czesław Miłosz. Die Analyse der „Sklavenschaft des Geistes in totalitären Staaten“ (Karl Jaspers im Vorwort) des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur von 1980 wurde von Stefan Andres bei der Lektüre mit zahlreichen Anmerkungen versehen.

Verführtes Denken führt ein in die Methode „Ketman“ (arab.: kitmān, Lippendienst), die gewohnheitsmäßige Camouflage, die nach Miłosz zum (Über-)Leben in den damaligen Volksdemokratien unabdingbar ist.

Wie Czesław Miłosz zeigt auch Stefan Andres, dass Tarnung und Maskierung auf die Dauer eine Bewusstseinsspaltung bewirken.

Ein bewährtes Verfahren, kulturelle Schmuggelware vor den Augen der Zensur zu verbergen, stellt Andres in seinem Roman vor, wenn die Hauptpersonen unerlaubte Literatur mit Umschlägen von unverdächtigen Klassikern verhüllen.

Dreißig Jahre später kann man in Thomas Brussigs Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) lesen, dass die jugendlichen Musikbegeisterten hinter der Berliner Mauer ihre verbotenen West-Schallplatten ebenfalls mit täuschenden Platten-Covers tarnen.

Mit seinem Roman Die Dumme exploriert Andres die politischen Verhältnisse seiner Zeit – und trifft die unsrige, insofern es um die Wirkung geistiger Mauern auf Bewusstsein und Alltagsmentalität geht.

Für die Stefan-Andres-Gesellschaft mit freundlichen Grüßen

Ihr

Wolfgang Keil

Anhang: Rundbrief Nr. 185 – Die Dumme